"In Frankreich bedeutet die deutsche Frage Auseinandersetzung mit der Idee der deutschen Einheit in den Jahren 1815 bis 1870, Auseinandersetzung mit der Existenz des Deutschen Reiches in den Jahren 1871 bis 1945, Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung resp. Wiedervereinigung seit 1945. Die Idee einer nationalen Einigung Deutschlands hat in Frankreich nicht nur Ablehnung, sondern auch viel Zustimmung erfahren. Die - den Deutschen vertraute - Ablehnung beruhte auf der Überzeugung, Deutschlands Einheit bilde eine Gefahr für Frankreich. Die Zustimmung resultierte in der Regel aus der Bejahung des Nationalitätsprinzipes als einem wesentlichen Bestandteil der Ideen von 1789. Tocqueville's machtpolitische Argumentation, Deutschlands Einigung und damit verbundene Stärkung liege im Interesse Frankreichs, da es sich in Zukunft gemeinsam der von Rußland drohenden Gefahr zu erwehren gelte, blieb im 19. Jahrhundert eine Ausnahme. Bis 1870 war die liberale Zustimmung zur Idee der nationalen Einheit Deutschlands mit der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben beider großer Nationen verbunden. Das prinzipielle Ja zur deutschen Einheit hat den deutsch-französischen Krieg überdauert und sogar im Ersten Weltkrieg standgehalten. Allerdings war es seit 1871 mit harter Kritik an einigen Wesensmerkmalen und an der Politik des Deutschen Reiches verbunden, seit 1914 mit der in Frankreich einhelligen Überzeugung von Deutschlands alleiniger Kriegsschuld. Von da an ist für die weitere Diskussion der deutschen Frage von entscheidender Bedeutung, ob die fatale Rolle des Deutschen Reiches in Europa auf unabänderliche Gegebenheiten oder auf veränderbare politische Umstände zurückgeführt wird. Die liberale Tradition der Zustimmung zur nationalen Einigung Deutschlands findet nach 1945 ihre Fortsetzung in der Anerkennung des Rechtes der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung." (Autorenreferat)